Dieser Mann erklärt, weshalb der VAR im Eishockey besser funktioniert als im Fussball
Als Brent Reiber im vergangenen August wieder sein Büro als Hockey-Schiedsrichterchef bezieht, ist es eine Rückkehr auf vertrautes Terrain. Siebzehn Jahre (bis 2014) ist er Profi-Referee in unserer höchsten Liga auf dem Eis, gehört zu den besten der Welt und wird zwischen 2005 und 2009 zu fünf WM-Turnieren und zu den Olympischen Spielen 2010 in Vancouver (mit den NHL-Profis) berufen. Später führt er sechs Jahre lang als Schiedsrichterchef die Unparteiischen, bevor er in den Fussball wechselt.
Vier Jahre lang ist er dort verantwortlich für die Profischiedsrichter unserer beiden höchsten Ligen, ehe er im August 2025 zum Hockey zurückkehrt. Von zentraler Bedeutung sind inzwischen bei beiden Sportarten die Video-Bilder. Der VAR ist eine Fussball-Einrichtung, die einerseits mehr Gerechtigkeit bringt, aber gleichzeitig die Erwartung nach Perfektion schürt und die Belastung erhöht. Brent Reiber erklärt es so:
Im Eishockey prüfen bei uns die Headschiedsrichter und Linienrichter die Video-Bilder in allen Fällen gleich im Stadion selbst. Im Fussball wird diese Prüfung – stark vereinfacht erklärt – an den VAR delegiert. Eine Einrichtung, die einerseits – wie oben erwähnt – mehr Gerechtigkeit bringt und gleichzeitig die Erwartung nach Perfektion schürt und die Belastung erhöht.
Wer glaube, der Video-Assistent geniesse einen entspannten Job im Stuhl vor Bildschirmen, täusche sich gewaltig. Brent Reiber vergleicht die Aufgabe und die Belastung mit jener eines Fluglotsen. «Du musst alles überwachen, darfst nichts übersehen, hast keine Entspannungsphasen und musst Entscheidungen unter Zeitdruck treffen – das ganze Stadion wartet.» Ein Fehler, und die Sportwelt diskutiere darüber.
Brent Reiber sagt, die Video-Assistenten seien nach einem Spiel wegen dieser Anspannung oft so fix und fertig wie der Schiedsrichter auf dem Feld. Was sind – abgesehen von einem unterschiedlichen Prozedere (im Fussball kann beispielsweise der Coach anders als im Hockey nicht mit einer Coaches Challenge eingreifen) – die Video-Unterschiede zwischen Hockey und Fussball? Brent Reiber erklärt es so: «Im Hockey gehe ich als Schiedsrichter zum Video, um eine bessere Entscheidungsgrundlage zu haben. Im Fussball, weil ich einen Fehler gemacht habe und vom VAR aufgefordert worden bin, zum Video zu gehen.»
In diesem Satz steckt der Kern des Problems: Im Eishockey ist die Videoüberprüfung ein Werkzeug, im Fussball eine Art Beichte. Zwei Philosophien, zwei Denkschulen – und sie prägen die Art, wie Schiedsrichter arbeiten, denken und vor allem auch, wie sie vom Publikum wahrgenommen werden.
Im Hockey denken die Fans: Gut, schaut er auf dem Video nach. Das ist professionell.
Im Fussball hingegen: Aha, er hatte wieder mal Tomaten auf den Augen. Der Gang zum Video wird so oft ein gefühlter Gang nach Canossa.
Was die Arbeit der Unparteiischen im Fussball erschwert: «Der Fussball hat eine über hundert Jahre gewachsene Kultur der Schauspielerei», sagt der kanadisch-schweizerische Doppelbürger.
Oder noch einfacher erklärt: Im Hockey gilt das «Schwalbenmachen» als Betrug. Jede Partie wird hinterher auf dem Video überprüft und wer eine Schwalbe gemacht hat, nachträglich empfindlich gebüsst.
Brent Reiber weist auf einen weiteren Unterschied hin: «Im Hockey wird die Aktion beurteilt – korrekt oder nicht, und gut ist. Im Fussball auch, aber wer laut schreit, sich spektakulär wälzt, wer den Schmerz zelebriert, kann mit dieser Reaktion die Entscheidung des Schiedsrichters beeinflussen.»
Ein Hockeyspieler dagegen unterdrücke den Schmerz, stehe wortlos auf und mache weiter.
Wer als Chronist Polemik mag, sagt es so: Hockeyspieler sind raue, harte Männer. Fussballer Weicheier. Hockey ist ehrlicher.
Brent Reiber sieht einen weiteren Unterschied: Auf dem viel grösseren Fussballfeld seien die Wege länger, die Kommunikation werde dadurch schwieriger, und viele Szenen könnten so oder so beurteilt werden: Es gebe bei der Regelauslegung – etwa bei Foul oder Handspiel – mehr Interpretations-Spielraum als im Eishockey. «Das macht den Job enorm anspruchsvoll.» Im Eishockey seien die Regeln klarer. Sozusagen schwarz-weiss. Was den Mann, der beide Welten kennt, schmunzeln lässt: «Wie das Hockey-Schiedsrichterdress.»
Was kann der Fussball vom Hockey lernen? Brent Reiber sagt, der Fussball müsste den Schritt von einem zu zwei Hauptschiedsrichtern wagen. Was nicht ganz einfach sei. «Der Schiedsrichter ist ein Alphatier. Eine Persönlichkeit, die gelernt hat, die Verantwortung allein zu tragen.» Um sich daran zu gewöhnen, dass er nicht mehr allein Herr im Rink ist und die Verantwortung nun geteilt wird, habe er eine Saison gebraucht.
Kenner sagen: Im Zweimann-System werden bis zu 90 Prozent der Sünder erwischt, im Einmannsystem 60 bis 70 Prozent. Auch die Übernahme der «Hockey-Video-Philosophie» könnte dem Fussball helfen: Der VAR mehr als Hilfe und nicht als Beweis der eigenen Fehlerhaftigkeit und das Einbinden der Coaches in die Verantwortung durch die Coaches Challenge, die es im Fussball nicht gibt.
Und was kann Hockey vom Fussball lernen? Reiber überlegt recht lang und sagt dann:
Das sei wegen der anstrengenderen Laufarbeit auf dem viel grösseren Feld eine unerlässliche Voraussetzung. Ein Schiedsrichter könne als Profi im Hockey drei bis vier Partien pro Woche leiten, im Fussball höchstens zwei.
Brent Reiber, der Mann zwischen den Welten, sagt sozusagen als Schlusswort, am Ende gehe es im Hockey und im Fussball immer um Gerechtigkeit. «Aber absolute Gerechtigkeit wird es nie geben. Weder auf dem Eis noch auf dem Rasen.»
Vielleicht ist das die ehrlichste Aussage, die man über moderne Schiedsrichterei machen kann.
